Samstag, 27. Februar 2010

Ach, Zürich

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Zürich baut, Zürich funktioniert. Und trotzdem: Die Stadt hat schon bessere Zeiten erlebt. Wo liegt eigentlich das Problem?

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Livia ist 29, sie hat als Informatikerin an der ETH abgeschlossen und fand gleich eine Stelle in einem internationalen Konzern. Seither ging es immer aufwärts. Julia ist ein paar Jahre jünger und arbeitet Tag und Nacht an ihrem Bachelor an der Universität Zürich im Fach Volkskunde. Den Master macht sie an einer amerikanischen Top-Uni, die Zulassung hat sie bereits.

Es ist Donnerstagabend, in der Kronenhalle-Bar herrscht mässig Betrieb, die gewohnte Mischung von Business und lokaler Prominenz, die junge Theaterautorin Laura de Weck ist auch da. Livia und Julia trinken Amaretto Sour, und wir reden über Zürich. Man spürt, wie die beiden hin und her gerissen sind zwischen dem sicheren Leben und der Sehnsucht nach etwas anderem.

«In Zürich zählt einzig, was du machst», sagt Livia. «Und wie du angezogen bist», ergänzt Julia. Livia überfällt manchmal der Drang, nach Berlin auszuwandern, wo man nicht ausschliesslich nach dem Job taxiert wird. Sie habe gedacht, sagt Livia, dass die Krise das Klima in Zürich verändern werde, aber dann sei der Einbruch gar nicht so schlimm gewesen.

«Hier führst du ein in Watte verpacktes Leben», sagt Julia, die eben von einem Forschungsprojekt in einem amerikanischen Schwarzenviertel zurück ist. Ihre Stimme ist heftig geworden. «Meine Freundinnen verloben sich alle und machen Kinder», sagt sie. Livia meint, sie finde junge Mamis cool. Sie hätte gerne Kinder, falls sie das Familienleben mit der Arbeit vereinen könne. «Sonst wandere ich nach Stockholm aus.»

Es ist noch nicht mal Mitternacht, doch die Stadt hat schon dichtgemacht. Der See liegt still und dunkel, die Strassen sind menschenleer. Kein Wunder, träumt man hier von Berlin.

Die Stadtpräsidentin

Wo steht Zürich zurzeit? Welche Etappe liegt vor uns? In den letzten zwanzig Jahren hat die Stadt einen unglaublichen Speed entwickelt. Deutsche, Russen, Amerikaner sind nach Zürich gezogen. In Zürich-West, Zürich-Nord, Zürich-Süd sind neue Quartiere entstanden, Google hat sich hier niedergelassen, und seit das Gastgewerbe liberalisiert wurde, kann man in Zürich sogar ausgehen.

Man kann darüber streiten, was diese Entwicklung ausgelöst hat, der Drive des Finanzplatzes, die Energie und das unternehmerische Denken der 80er-Bewegung oder die politische Weitsicht einiger Parteistrategen. Tatsache ist, dass Zürich noch in den Neunzigerjahren ein Sanierungsfall war, anderthalb Milliarden Franken Schulden, Sparpakete und Steuerfusserhöhungen. Die Menschen zogen in die Vororte, die Parks waren übersät mit weggeworfenen Spritzen. Politisch war die Stadt gelähmt vom Kampf zwischen Linken und Bürgerlichen, der mit einer Verbissenheit geführt wurde, als ginge es um das letzte Gefecht. Heute fühlen sich 97 Prozent der Bevölkerung wohl in der Stadt; Zustimmungswerte wie in der alten Sowjetunion.

Bei meinem letzten Besuch im Stadthaus hatte der damalige Stadtpräsident Elmar Ledergerber vor der grossen Abhängigkeit der Stadt von den Banken gewarnt: «Wenn es auf den Finanzmärkten rumpeln sollte, werden wir das grauenhaft zu spüren bekommen.» Das war vor vier Jahren, und wir hatten uns darüber unterhalten, wie er als Sozialdemokrat damit zurechtkommt, dass Zürich von deutschen Zahnärzten lebt, die in ihrem Land keine Steuern zahlen.

Dann kam die Krise.

Sie traf den Finanzplatz Zürich nicht so grauenhaft, wie Ledergerber vorausgesagt hatte. Der Sturm schien vorüberzuziehen. Doch dann ging die Diskussion um das Bankgeheimnis los. «Wir müssen kämpfen, das Bankgeheimnis darf nicht fallen. Kein Mensch weiss, wie viel Geld aus Zürich abgezogen werden wird», sagte ein junger Privatbanker. Das waren Durchhalteparolen — die entscheidende Frage, wie es mit Zürich weitergeht, wenn das Bankgeheimnis gefallen ist, stand plötzlich auf der Tagesordnung.

Corine Mauch ist klein und zierlich, mit einem aufrechten, bestimmten Gang. Sie trägt einen schwarzen Anzug aus Manchester und ein Foulard in Gelbtönen. Sie ist seit neun Monaten im Amt, und es fällt auf, wie schlecht sie von den Medien behandelt wird. Sie sei mit politischen Stellungnahmen kaum aufgefallen, schrieb kürzlich die NZZ und fragte sich, ob «Zürich mit einer charismatischeren Persönlichkeit nicht besser bedient wäre». Der Volksmund spricht bereits von der ‹grauen Mauch›.

Mauchs Warmreden dauert zehn Minuten. «Man muss dort anknüpfen, wo wir Stärken haben», sagt sie. «Die Stadt wird Finanzplatz bleiben. Mit sauberen Geschäften, das ist entscheidend. Wir sind daran, uns differenzierter zu orientieren», sagt Corine Mauch. «Wir sind gut aufgestellt. Wir sind ein Bildungsstandort, die Kreativwirtschaft stellt jetzt schon sieben Prozent der Arbeitsplätze, sie bildet den Humus, den lebendigen Untergrund, um kreative, innovative Menschen anzuziehen.»

«Wird der Tag kommen, an dem man nicht nur an Banken denken wird, wenn man von Zürich spricht?»

«Es ist nicht ganz einfach, einer ganzen Stadt eine andere Richtung zu geben. Aber wir haben uns auf den Weg gemacht. Wir sind im Aufbruch. Ich war an der Klimakonferenz in Kopenhagen. Die grösste Aufmerksamkeit erregte unter den achtzig anwesenden Bürgermeistern unsere demokratische Legitimation, in den nächsten vierzig Jahren die 2000-Watt-Gesellschaft zu erreichen. Das ist nur ein Beispiel.»

«Sie reden vom Kreativ- und Bildungsstandort Zürich, aber Bildung fängt unten an. Wenn sie kreative Leute nach Zürich holen wollen, braucht es mehr Krippenplätze und mehr Tagesschulen.»

«Ich weiss, wir haben grossen Handlungsbedarf», sagt Mauch. «Wir haben zwar zugelegt in den letzten Jahren, aber wir müssen noch mehr tun. Als der Kanton noch lange nicht soweit war, haben wir erste Tagesstrukturen eingeführt.»

Dann sprach sie lange über den Schweizer Anti-Zürich-Reflex und plädierte dafür, bescheidener aufzutreten. «Wir müssen uns verbünden und vernetzen», sagte sie, «die Aussenbeziehungen werden immer wichtiger. Es ist auch eine Frage des Auftretens, ob wir als Bedrohung wahrgenommen werden oder als Partner.»

Auf die Kritik an ihren wenig charismatischen und seltenen Auftritten angesprochen, reagiert sie ein wenig gereizt.

«Haben Sie ein Beispiel?», sagt sie.
«Sie hätten ein paar Sätze zu den Deutschen in Zürich sagen können.»
«Ich glaube nicht, dass die Deutschen ein Problem sind.»

Bleibt Zürich eine Bankstadt?

Zürich wird seit 1990 rot-grün regiert. Nach 1994 fanden sich Linke und Bürgerliche im Stadtparlament zu einem historischen Kompromiss, und mit dem Börsenboom der Jahrtausendwende kam Geld in die Stadtkasse. «Wir haben uns mithilfe der Blase saniert», sagte Corine Mauch. Damals beschloss die rot-grüne Mehrheit eiserne Budgetdisziplin, was sich jetzt auszahlt. Zürich kann sich leisten, vier Jahre lang auf die üblichen Steuern der Banken zu verzichten.

Finanzvorstand Martin Vollenwyder rechnet im Jahre 2012 wieder mit dem Geld der Banken. Er geht davon aus, dass sich der Finanzplatz Zürich auf Dreiviertel seiner vorherigen Leistung einpendeln werde, wenn das Bankgeheimnis gefallen sei. Vollenwyder ist ein Bär von einem Mensch, er wirkt wie jemand, der seinen Platz im Leben gefunden hat, zwischen den Ordnern mit den Steuerzahlen im sechsten Stock des Werdhochhauses. «Zürich hat ein paar Trümpfe. Die geografische Lage, das Können der Leute, die politische Stabilität, die Sicherheit. Sie können sich nicht vorstellen, wie beeindruckt unsere Gäste aus dem Ausland sind, wenn sie sehen, dass bei uns die Stadträte im Tram unterwegs sind, ohne Leibwächter und dunkle Dienstwagen.»

Vollenwyder erinnert sich, wie sie in den Neunzigerjahren durch die leeren Fabrikhallen der Escher Wyss gegangen seien. «Da haben die Mäuse getanzt. So viel Theater kannst du gar nicht spielen, hiess es, um diese Hallen zu füllen. Und jetzt geht da ein Elektromotor in Serie, der umweltschonend Erdöl vom Meeresgrund hinaufpumpt, ein Spinoff der ETH in Zusammenarbeit mit MAN. Als Folge hat sich auf dem Areal eine Firma für Umweltberatung angesiedelt, Menschen aus dreissig Nationen. Und dass Sika ihr Forschungslabor in Zürich baut, dass ABB für eine Produktionshalle ein Baugesuch eingereicht hat, haben Sie vermutlich auch nicht gewusst.» Dass diese Entwicklung mit der ETH zu tun habe, sei klar, sagt Vollenwyder. Er könne deshalb nicht verstehen, dass bürgerliche Politiker die Studiengebühren erhöhen wollen.

Der Zürcher Finanzplatz werde zu 75 Prozent zu seiner alten Form zurückkehren nach der Krise. Was hält Bankier Hans Syz davon, Hauptaktionär der Privatbank Maerki Baumann am Schanzengraben. «Vielleicht sind es auch mehr als Dreiviertel der alten Leistung», sagt Syz. «Wir stehen vor einer Pionierphase. Es wird ein paar Einbrüche geben, aber ich bin überzeugt, dass der Finanzplatz Zürich wieder ausgebaut wird.»

«Ist das Bankgeheimnis gestorben?»
«Es wird eine europäische Anpassung geben.»
«Zürich wird Bankenstadt bleiben?»
«Mehr denn je», sagt Syz.

Die verjüngte Stadt

Während Zürichs Identität als Finanzplatz zur Diskussion steht, läuft vor unseren Augen ein zweiter Prozess ab: Die Stadt erlebt einen Bauboom. Die Betonmischer laufen auf Hochtouren. Es wird gebaut in dieser Stadt, wie nie zuvor. Raum wird knapp, und die Frage lautet: Wie gross soll Zürich sein?

Zürich ist ein Magnet geworden. Um 22 000 Einwohner ist die Bevölkerung in den letzten fünf Jahren gewachsen. Die Stadt verjüngt sich. Viertausend Kinder sind auf die Welt gekommen, Studenten sind nach Zürich gezogen, und Menschen über Mitte fünfzig. Wohnraum wird knapp, Mieten werden teuer, Quartierläden und Handwerksbetriebe verschwinden.

In den Wohnvierteln regt sich Widerstand. Die Dienstleistungen der Stadt scheinen an ihre Grenze gelangt; Kinderkrippen führen Wartelisten, der kommunale Wohnungsbau hat sich nach der gewaltigen Anstrengung der letzten Jahre verlangsamt. Es sind keine alarmierenden Nachrichten, und trotzdem hat man das Gefühl, die goldene Ära schon hinter sich zu haben.

Es ist einiges in Bewegung geraten. Man siehts deutlich auf dem siebzehnten Stock des Prime Tower, wo das höchste Gebäude der Schweiz hochgezogen wird. Von oben wird im Spielzeugmassstab das ringförmige Wachstum der Stadt klar lesbar. Die Altstadt und die Bürgerhäuser des 19. Jahrhunderts, wie eine Postkarte aus der Zeit von Gottfried Keller; das 20. Jahrhundert mit den Wohnbaugenossenschaften, dem Lochergut, den Türmen der Hardau. Und dann der Big Bang hinter der Hardbrücke, wo das 21. Jahrhundert beginnt, das endlose Gleisfeld Richtung Limmattal, wo kleinere und grössere Türme hochgehen. Auf dem Betongerippe des Prime Tower kann man sich der Faszination der Zukunft nicht entziehen.

Auf dem Areal der Toni-Molkerei bauen die jungen Architekten von EM2N, Roger Diener erstellt den Mobimo Tower. Auf dem Coop-Areal im Vordergrund planen Meili, Peter Architekten eine riesige Wohnsiedlung. Weiter hinten sieht man die elegante Schüssel des Letzigrunds und die Hardturmwiese, wo bald ein Stadion gebaut wird. «Faszinierend ist nicht so sehr der Turm, sondern das Tempo der Entwicklung», sagt Mike Guyer, der mit Annette Gigon den Prime Tower baut.

Guyer steht mitten im Armierungswirrwarr, Stiefel, Helm, schwarzer Regenmantel. «Für mich sind 126 Meter inZürich eine nachvollziehbare architektonische Dimension», sagt er. «In wirklich neue Massstäbe für eine SchweizerStadt stösst der Roche-Turm in Basel mit seinen 170 Metern vor. Neu für uns ist, dass wir in der ganzen Stadt wahrgenommen werden.»

Warum wird der grösste Turm der Schweiz in Basel gebaut? «Zürich ist misstrauisch gegenüber allem, was aussergewöhnlich gross und neu ist. Hier könnte eine Bank einen solchen Turm nicht bauen. Aber für Basel ist die chemische Industrie dermassen wichtig, dass die Bevölkerung die 170 Meter akzeptiert. Wenn unser Turm einmal steht, wird sich die Schallgrenze auch in Zürich nach oben verschieben — aber eben nur Schritt für Schritt», sagt Mike Guyer. «Irgendwann wird in Altstetten, in Schwamendingen oder Leutschenbach der erste 200-Meter-Turm stehen — im Zürich des 21. Jahrhunderts. Aber nicht in der Innenstadt.»

Kein Recht auf Wohnen im Seefeld

Um die Jahrtausendwende dachte man, dass sich Zürich im Wettbewerb der Städte durch Architektur auszeichnen könne, Bilbao und Luzern hatten es vorgemacht. Es gab zwei spektakuläre Anläufe, das Hardturmstadion und das Kongresshaus, beide sind gescheitert. Heute heisst das Zauberwort Verdichtung. Verdichtung bedeutet enger zusammenrücken, bedeutet weniger Platz, bedeutet mehr Hochhäuser und urbanes Denken.

Vor zwanzig Jahren, als die Industriebrachen frei wurden, war es einfacher, in Zürich Stadtentwicklung zu planen. «Die Ausgangslage ist heute völlig anders», sagt Stadtpräsidentin Corine Mauch. «Wir werden uns fragen müssen, wie die Verdichtung in den einzelnen Quartieren aussehen muss, ohne dass wir die super Lebensqualität verlieren.» Verdichtung heisst Kampf um Wohnraum. Quartiere werden einheitlicher, wer nicht zahlen kann, muss umziehen.

«Verdichtung ist der Weg zur Grossstadt», sagte Mike Guyer. «Der Umgangston wird rauer. Und Zürich hat damit Mühe. Wir sind das Gegenteil von Grossstadt.» Auch Guyer erzählt von Freunden, die ihre Wohnung aufgeben mussten, weil sie unbezahlbar geworden sei, und weil die neuen Mieter das Quartier verändern. Guyer plädiert dafür, dass die Stadt mit gezielten Hauskäufen dafür sorgt, die soziale Durchmischung der Quartiere zu erhalten.

Auch Martin Vollenwyder, Finanzminister der Stadt und Chef der städti¬schen Liegenschaftsverwaltung, ist auf die¬ser Linie, obwohl er sagt: «Wenn jemand aus einer Viereinhalbzimmerwohnung im Seefeld nach Leutschenbach umziehen muss, weil sie dort noch bezahlbar ist, dann finde ich das zumutbar. Ich denke, wir erneuern diese Stadt nicht zu schnell, sondern zu langsam. Es darf nicht mehr sein, dass einer den Anspruch hat, an ¬einem Ort zu bleiben, bloss weil er dreissig Jahre dort gewohnt hat, das geht nicht.»

«Verdichtung bedingt eine andere Wertstruktur in den Köpfen», sagt Architekt Marcel Meili. «Verdichtung heisst, einen Neubau zu akzeptieren, auch wenn er dir die Sicht auf den Uetliberg wegnimmt.»

Meili weiss, wovon er redet. Vor sechs Jahren stand sein neues Hardturmstadium vor der Realisierung. Dann zog die Credit Suisse nicht mit, eine spiessige Anwohnerschaft blockte aus egoistischen Gründen. Meili hat das Projekt begraben. Er wird sich nicht am Wettbewerb für die bescheidene Variante eines neuen Hardturmstadions beteiligen.

Jede Gesellschaft habe ein Mass an Projektenergie, sagt Meili, und der ehemalige Stadtpräsident Elmar Ledergerber habe es geschafft, mit dem Stadion den kollektiven Willen anzuspornen. Aber im Grunde, sagt Meili, sei Zürich eine Stadt ohne ein Projekt. «Zürich, das sind vor allem Finanzdienstleister. Kollektive Projekte treibt das nicht voran.»

«Die letzte grosse Leistung war der Bau der S-Bahn in den Achtzigerjahren», sagt Meili und steht auf, als wollte er die historische Bedeutung des Ereignisses unterstreichen. «Erst damals ist Zürich zur grossen Stadt geworden», sagt er.

Heute beschränke sich Zürich darauf, in den Bereichen Sicherheit, Erziehung und Verkehr gute Arbeit zu leisten, sagt Meili. «Das schafft zwar internationale Standortvorteile, ergibt aber keine aufregende Stadt.»

Der englische Geograf Peter J. Taylor reiht heute Zürich in seiner «Global Urban Analysis» in die Gruppe der zweitwichtigsten Weltstädte ein, auf gleicher Höhe mit Brüssel, Seoul, São Paolo, Madrid.

Durch diese Entwicklung ist Zürich unter Druck geraten. «Wirtschaftlich spielt Zürich in der Champions League, bevölkerungsmässig und kulturell sind wir ein paar Stufen tiefer», sagt der Zürcher Architekt Thomas Sevcik, ein Fachmann für die Positionierung von Städten mit einem Lehrauftrag am Central Saint Martins College in London. Aber Zürich könne sich im Wettbewerb der Standorte sich nicht leisten, von den kulturell überlegenen Rivalen abgehängt zu werden; Nachlassen auf die Dauer würde bedeuten, die von der Wirtschaft und vom Bildungssektor benötigten Leute zu verlieren.

Nächste Woche sind in Zürich Wahlen — man merkt es kaum. Offenbar erzeugen diese Fragen keinen politischen Lärm. Der Zürcher Wahlschlager ist der Krach zwischen der Stadtpräsidentin und zwei aggressiven Barbetreibern, die sich von der städtischen Bürokratie betrogen fühlen. Die Stadt steht vor einem grossen Sprung, bedeutende Fragen stehen im Raum — und wir diskutieren über Lokalklatsch. Das ist alarmierend.

Hipsterboy

Warum bloss die Parteien in der Politik vertreten sind und nicht auch die Kräfte, die zum Zürcher Aufbruch beigetragen haben? Die Partykönige zum Beispiel. Oder Leute aus der Gastro-Hipster-FCZ-Szene, wie Oliver Baumgartner. Wir sitzen in seinem Gasthaus zum Guten Glück an der Weststrasse. Oliver ist 35, ein erfahrener Sprayer und Hiphopper und als «Jet Domani» Rapper bei Radio 200 000, der Band mit Sympathien zur Zürcher Südkurve.

«In die Politik gehen?», sagt er, «habe ich mir auch schon überlegt. Aber nein, Politik ist kompliziert, und Diplomatie gehört nicht zu meinen Stärken.» Oliver ist klein gewachsen, Bart und grüne ¬Augen, er trägt ein paar Goldringe, wie ein lustiger Quartierganove.

Das Gasthaus zum Guten Glück befindet sich in einem Haus, das seit 1894 nie mehr renoviert wurde. Es steht in einer interessanten Gegend, nach über dreissig Jahren Fernverkehr wird die Weststrasse beruhigt. Noch werden Drogen gedealt in den Nachbarhäusern, aber in ein paar Jahren wird sich die russige Ecke zum Trendquartier verändert haben. Das Lokal sieht berlinerisch aus, stilvoll, ohne kalt zu sein, es gibt Pfannkuchen, Waffeln und Frühstück den ganzen Tag.

Ohne Beziehungen sei es nicht einfach, in Zürich ein bezahlbares Lokal zu finden, wenn man etwas aufmachen wolle, sagt Oliver. «Es braucht Selbstbewusstsein. Aber es ist möglich.» Wer gelassen bleibe und eine gute Idee habe, könne sich auch heute selbstständig machen. Er habe das Glück gehabt, im Haus seiner Eltern anfangen zu können, als er das Kafi Schnaps an der Kornhausstrasse eröffnete, an der Ecke, wo sich zwei Trolleybuslinien kreuzen. «Ohne die Unterstützung meiner Eltern hätte ich an dieser Lage ein Treuhandbüro eröffnen können, aber sicher kein Café.»

Den Einstieg erleichtert habe ihm auch, dass er nie etwas allein gemacht habe, sagt Oliver. «Ich war immer Teil einer Gemeinschaft.» Er hat angefangen bei der Kultband Primitive Lyrics, gehörte zum harten Kern der Südkurve («Hört auf mit dem Märchen von der Fussballstadt Zürich») und gründete eine Internetfirma, bevor er ins Gastgewerbe einstieg. Oliver vermietet oberhalb seiner Cafés auch günstige Gästezimmer. Wer nach Zürich kommt, sollte sich die Adressen notieren.

«Das Problem dieser Stadt ist, dass alle vernünftig sind, selbst die Alternativen», sagt Oliver. «Vernunft ist die Ethik des Zürchers. Die einzigen Unvernünftigen sind die Bänkler.» Er beobachtet, wie die Langstrasse immer schicker wird und die Bahnhofstrasse immer cooler, und fragt sich, wo das hinführe in einer Stadt, die bisher von ihren Gegensätzen gelebt habe. Er sieht, wie das Kleingewerbe verschwindet, Läden, Beizen, Kioske, und er fordert, dass der Staat Banken und Hausbesitzer in die Pflicht nehmen müsse. «Wer ein Haus besitzt, müsste eine Prüfung ablegen. Er müsste sich bewusst werden, welche Verantwortung er trägt. Und man müsste ihm beibringen, sich um die Gemeinschaft zu kümmern. Es geht nicht, dass einer einfach in den Bergen hockt und sich das Geld greift.»

Die Stadt im Netz

Christian Klinner hat ein paar Thesen. Erstens: Es stimmt nicht, dass sich Zürich in einer Flaute befindet, dass die Aufbruchstimmung nachlässt. Warum auch? Es gibt wieder eine neue Generation von jungen Leuten, und die Wirtschaftskrise ist vorbei. Zweitens: Weil die Mieten in Zürich so hoch sind, müssen die Jungen neue Strategien entwickeln, um ins Geschäft zu kommen. Viele weichen ins Netz aus. Darum ist in Zürich oft nicht sichtbar, was in der Stadt läuft.

Christian Klinner ist 35 und betreibt auf dem Internet den Ausgehführer «Ron Orp’s Mail», der täglich von etwa 70 000 Menschen angeklickt wird. «Ron Orp’s» gibt es unterdessen auch in Basel, Bern, Luzern, aber auch in New York, Wien oder Brasilia. Letztes Jahr haben Klinner und sein Geschäftspartner Romano Strebel Geld gesucht, um ihre Filialen auszubauen. Sie nahmen an Ausschreibungen für Jungunternehmer teil, sie durchliefen das Förderprogramm des Bundes, und am Ende gaben sie auf. «Es ging zu viel Zeit und Energie in Businesspläne und Exceltabellen», sagt Klinner.

Klinner kennt die Stadt. Er weiss, was geplant ist. Er sagt: «Hör auf mit der Vorstellung, eine Stadt sei lesbar an ihren Bars und Cafés, an ihren Events und Trends. Die Leute reden miteinander auf dem Netz. Sie organisieren Partys auf dem Netz, sie hören Musik, es gibt Flohmärkte, Babykleider und Bäckereien auf dem Netz. Und es ist alles in Bewegung. Morgen können sich Kreative verabreden, nach Osteuropa auszuwandern, weil sie Ateliers und Übungsräume nicht bezahlen können, und übermorgen entsteht daraus eine Bewegung.»

«Lebt eine Stadt nicht von ihren Treffpunkten. Wo sich die Menschen in die Augen schauen?»

«Sicher», sagt Klinner, «aber das Netz hat die Menschen dermassen individualisiert, dass man sie schwer fassen kann. Man macht vieles gleichzeitig, alles ist Projekt. Man will sich nicht festlegen. Schau mal, wie die Kids ausgehen. Dauernd geben sie sich auf Twitter neue Tipps und Trampelpfade durch.»

Underdog-City

Zürich, sagt Fredi Fischli, erinnere ihn an den FCZ. «Es ist kalt, und es regnet, und sie spielen null zu null.» Fischli ist 23 und studiert Kunstgeschichte, sein Vater ist Peter Fischli, vom Künstlerduo Fischli & Weiss. Fredi geht an jeden Match.

«Der FC Zürich ist doch Meister», sage ich. «Letztes Jahr spielte er in der Champions League.»

«Im Herzen der Fans sind wir der Underdog», sagt Fischli. «Es ist nicht so schlimm, wenn wir nicht jedes Spiel gewinnen. Wir stehen immer hinter der Mannschaft. Und ab und zu vollbringen wir Grosses.»

Sieht er Zürich als Provinzstadt?
«Zürich ist sicher keine Grossstadt», antwortet Fischli. «Das wissen wir.»

Fredi Fischli hat mit ein paar Freunden ein Lokal aufgemacht, wo durchreisende Künstler und interessante Menschen übernachten und Klubmitglieder sich treffen können. Die Gruppe hat fürs Erste im Niederdorf ein paar Räume gefunden, bei einem Zürcher Hausbesitzer, der das Herz auf dem rechten Fleck hat. Partys gäbe es genug, sagen Fredi und seine Freunde, sie würden lieber mit ein paar klugen Menschen darüber reden, wo wir heute stehen. «Wir wollen nicht Geld machen, sondern irgendwo zu Hause sein.»

Und sein Kumpel Tobias Madison sagt: «Ich bin pro Jahr drei bis vier Monate unterwegs. Ich weiss ungefähr, wie die Welt aussieht.» Tobias Madison ist ein Jahr älter und bereits ein anständig verdienender Künstler. Fischli ist in Zü­rich aufgewachsen, Madison kam aus Basel zum Studium an die Hochschule für Gestaltung.

«Neue Sachen geschehen meist anderswo, bevor sie den Weg nach Zürich finden», sagt Fischli. «Aber wir in Zürich haben eine Art Ironie entwickelt, damit umzugehen. Wir imitieren, aber wir machen das bewusst. Oft entsteht daraus wieder etwas Neues, Überraschendes.»

«Aber habt ihr nicht das Bedürfnis, an der Grenze zu sein, wo es wirklich abgeht?»

«Ich weiss nicht», sagt Madison, «wir sind so vernetzt, dass wir nicht das Gefühl haben, weit weg vom Geschehen zu sein. Und hier hast du deine Ruhe. Du kannst arbeiten, ohne dauernd dich mit anderen messen zu müssen.»

Zürcher Ängstlichkeit
Man nannte Elmar Ledergerber den Sonnenkönig, weil er dauernd auf Trab war, immer Ideen hatte, die er auch manchmal widerrief.

Wie sieht er die Zukunft der Stadt?
«Es gibt zwei grosse Probleme», sagt Ledergerber. «Erstens müssen wir aufpassen, dass wir nicht Geiseln werden von Regulierungen und Vorschriften, die nur den bürokratischen Aufwand vergrössern.» Ledergerber schildert das kafkaeske Bild einer Zürcher Ämterherrschaft, eine Horrorvision sinnloser Gründlichkeit. «Es wird immer schwerer, etwas Neues zu verwirklichen», sagt er.

Das zweite Problem?
«Die Ängstlichkeit, Angst vor dem eigenen Mut. Schauen Sie, was mit dem Stadionprojekt geschehen ist. Das kleine und ängstliche Zürich hat aber im internationalen Standortwettbewerb keine Chance.»
Er schweigt einen Moment. «Die Ängstlichkeit ist im Versteckten immer da», sagt er. «Sie schläft nie.»

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Zweck vom Sonnendeck

Das Sonnendeck dient mir als Abstellplatz wichtiger Habseligkeiten wie auch überflüssigen Ballasts. Daneben lässt sichs aber auch ganz gemütlich liegen und der Gelassenheit frönen.

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